Inhalt des Kurses
Bachelorarbeiten Produktgestaltung
In der Bachelor-Arbeit im 7. Semester bearbeiten die Studierenden anhand eines frei wählbaren Themas ein Gestaltungsprojekt, in dem sie ihre erlernten Kenntnisse in Recherche, Konzept und Entwurf praktisch anwenden.
Produktgestaltung
Semesterjahr7. Semester
EyeTalk - Kommunizieren im Locked-in Syndrom
Zusammenfassung
EyeTalk ist ein Produktkonzept aus drei Komponenten, welches Menschen im Locked-in Syndrom ermöglichen soll, schneller und eigenständiger zu kommunizieren.
Die erste Komponente ist ein Eyetracking Headset, welches die vertikale Augenbewegung der Betroffenen mittels Elektrookulografie (EOG) misst und damit die zweite Komponente, eine Satzbausoftware, steuert. Diese Software ist für die User visuell nicht sichtbar. Über ein in dem Headset integrierten Bone Conduction Kopfhörer, bekommt nur der/die Träger:in des Headsets zu hören, wo er oder sie sich in der Software befindet und welche Auswahl getroffen wurde.
Ist der Satz fertig zusammengestellt, wird er im nächsten Schritt an die dritte Komponente des Systems geleitet. Diese ist die Station, welche den erstellten Text über einen Lautsprecher für alle im Raum hörbar ausgibt.
Durch einen Wechselakku, ein geringes Gewicht und einen guten Sitz soll das Headset den ganzen Tag und die ganze Nacht getragen werden können, eine Kommunikation ist dadurch rund um die Uhr gewährleistet. Eingesetzt werden soll das Produkt schon während der Krankenhauszeit, weshalb es für einen schnellen und unkomplizierten Nutzungsablauf gestaltet wurde.
Hintergrund und Recherchen
Merkmale des Locked-in Syndroms
-Neurologische Störung nach Schlaganfall (häufigste Ursache)
-Komplette Lähmung des Körpers bis auf minimale Bewegungen
-Am schnellsten wiederkehrende Bewegung in den Augen
-Erhalt von Bewusstsein, kognitiven Fähigkeiten und allen Sinnen
-Heilungschancen sehr individuell, in den meisten Fällen bleiben Einschränkungen
Das Locked-in-Syndrom (LiS) ist eine neurologische Störung, welche sich, ausgehend von einer Verletzung im Hirnstamm, durch die Lähmung sämtlicher Muskeln bemerkbar macht. Ausnahmen sind dabei die Augen, hier sind in den meisten Fällen Blinzeln und eine vertikale Bewegung möglich, seltener die horizontale. Zusätzlich kann eine minimale Restmotorik in anderen Körperregionen bleiben.
Abseits der körperlichen Einschränkungen sind die Betroffenen kognitiv zu allem in der Lage, bei vollem Bewusstsein und besitzen alle Sinne (Tastsinn, Schmerzen, usw.).
Es gibt verschiedene Wege, die ein Auftreten dieses Syndroms herbeiführen. Neben dem Schlaganfall, welches der Hauptauslöser ist, kann dies auch nach einem erlittenem Trauma auf der Intensivstation temporär passieren. Zusätzlich können Krankheiten wie Multiple Sklerose (MS) oder Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) trotz anderer Ursache im Endstadium zu dem gleichen Zustand der Bewegungslosigkeit führen.
Über verschiedene Therapien können Patient:innen wieder erlernen, sich zu bewegen, zu sprechen und zu essen. Wie groß die Erfolgschancen sind und wie lange die sie dafür benötigen, ist allerdings sehr individuell.
Generelle Problematik
-Maximalen Abhängigkeit von anderen Personen, besonders in Krankenhauszeit
-Hindernisse bei Einsatz von Hightech-Kommunikationshilfen (Eyetracking) in KH-Zeit
-Für die eingesetzten Hilfen wird während der Satzerstellung eine zweite Person benötigt
Das Resultat des Locked-in Syndroms ist also eine maximale Abhängigkeit von anderen Personen mit zusätzlicher sozialer Abgrenzung. Im Laufe des Projekts hatte sich herausgestellt, dass die Selbstständigkeit der Patient:innen vor allem in der anfänglichen Zeit im Krankenhaus eingeschränkt ist. Dies lässt sich auf der einen Seite durch die noch starken körperlichen Einschränkungen und zum anderen durch den Zeitmangel des Krankenhauspersonals herleiten, da diese nicht die nötige Zeit haben, die persönlichen Bedürfnisse der Patient:innen zu erörtern.
Während unserer Recherche wurde deutlich, dass man dieser Problematik in dem speziellen Zeitraum am besten entgegentreten kann, indem man den Patient:innen eine schnellere und eigenständige Kommunikation ermöglicht.
Viele der bisherigen Kommunikationshilfen sind zeitintensiv und können nur mit einer zweiten Person verwendet werden. Technologische Hilfen wie das Eyetracking können in Kombination mit einer Software oder einem Computer zwar ein hohes Maß an Freiheit in der Sprache schaffen, werden allerdings in der Krankenhauszeit fast nicht verwendet.
Ist- und Wunschzustand der Kommunikationshilfen
-Eingesetzte Kommunikation ist meist Abfragen von Ja/Nein Fragen oder Buchstabentafel
-Betroffene äußern Wunsch nach selbstständiger/schneller Kommunikation wie bei Produkten mit Eyetracking
In den von uns geführten Umfragen mit Betroffenen und dessen Angehörige hat sich herausgestellt, dass in diesem Zeitraum hauptsächlich mit der Buchstabentafel und dem Abfragen von ja/nein Fragen und Rückmeldung über Blinzeln kommuniziert wurde.
Bei der Buchstabentafel wird das in Reihen aufgeteilte Alphabet von einer zweiten Person vorgelesen. Ist der richtige Buchstabe an der Reihe, gibt der/die Betroffene eine Rückmeldung (z. B. Blinzeln) und der Buchstabe wird von der zweiten Person aufgeschrieben.
Die Umfragen zeigten allerdings auch, dass sich viele eine effizientere und vor allem schnellere Methode gewünscht hätten, dabei sprachen einige direkt den Wunsch nach Geräten mit Eyetracking aus.
Probleme der bisherigen Eyetracking-Produkte
-Pflege von Textil schwer in Krankenhausalltag integrierbar
-Ergonomie von Kopfteilen nicht für dauerhaftes Liegen gestaltet
-Zusätzlicher Bildschirm benötigt, daraus folgt:
-Je nach Display hohe Kosten
-Aufwendiger Aufbau/Umbau (Bleibt oft an Pfleger:innen mit Zeitmangel hängen)
-Zunehmende Komplexität in der Erscheinung
-Hauptsächlich videobasierte Eyetracker (VOG), daraus folgt:
-Kamera vor dem Gesicht benötigt, diese verschiebt sich in Seitenlage
-Bildverarbeitung benötigt höhere Prozessorleistung und folglich mehr Energie
-Nebenerkrankungen (z.B. Augenzittern) fördern Fehler in der Benutzung
Einer der häufig genannten Gründe war der Zeitmangel in Pflegeberufen. Wenn Eyetracker einen Display ansteuern, kommt es zwangsläufig zu einem aufwendigeren Setup, welches dann an den Pfleger:innen hängen bleibt. Dazu kommen die höheren Kosten und die zunehmende Komplexität des Produkts in der Erscheinung, was manche der Angehörigen abschreckt. Leiden die Betroffenen gleichzeitig an Nebenerkrankungen wie dem Augenzittern, können die Nutzer:innen einzelne Punkte des Bildschirms nicht fokussieren und es kommt zu Fehlern in der Anwendung und ein schnelles Ermüden.
Die Patient:innen müssen außerdem mehrmals am Tag von der Seitenlage in die Rückenlage positioniert werden, um Druckgeschwüre zu vermeiden. Alle recherchierten Produkte arbeiten mit einer videobasierten Technik, welche über eine vor dem Gesicht liegende Kamera die Position des Auges bestimmt. Bei dem ständigen Umlagern müsste so jedes Mal eine neue Position für das Display bestimmt oder auf ein Verschieben der Kamera aufgepasst werden.
Da der Wunsch nach Eyetracking als Kommunikationshilfe trotz dessen Nachteile existiert, wurde in diesem Konzept mit einer anderen Technologie gearbeitet, um die Augenbewegung zu erkennen und somit eine Software zu steuern. Statt einem Videobasierten Eyetreacker, wurde das Tracken über eine Elektrookulografie (EOG) eingeplant.
Produktlösung
Elektrookulografie (EOG)
Um die vertikale Bewegung des Auges zu messen, wird bei einem EOG Elektroden über und unter dem Auge in Kontakt mit der Haut gebracht. Zudem benötigt man eine Referenzelektrode an der Seite des Kopfes. Jedes Auge von Natur aus ein Dipol, das heißt vorne an der Hornhaut positiv und hinten an der Netzhaut negativ geladen. Bewegt sich das Auge nach oben und unten, so ändert sich das elektrische Potenzial und diese Veränderung kann klassifiziert und in der Software als Steuerungsbefehl verwendet werden. Je nach Helligkeit im Raum kann die Stärke des gemessenen Biosignals schwächer werden, weshalb in das Headset ein Lichtsensor eingeplant wurde.
Headset
In dieser Bachelorthesis lag der Fokus auf dieser Komponente des Produktsystems, da es der wichtigste Bestandteil mit den meisten Anforderungen war.
Besonders herausfordernd für die Gestaltung war, dass Patient:innen sich hauptsächlich liegend im Krankenhausbett befinden und täglich mehrmals umgelagert werden müssen, um Druckgeschwüre zu verhindern. Aus diesem Grund musste eine Wirkstruktur entworfen werden, welche fest auf dem Kopf sitzt und sich nicht verschiebt. Außerdem sollte eine lange Tragedauer ermöglicht werden, weshalb ein hoher Komfort gesichert sein muss
Die umgesetzte Wirkstruktur umgeht die empfindlichen Stellen um das Ohr und lässt die Druckstellen am Hinterkopf frei. Die Form fließt von der Verbindungsstelle ein Mal um den Hinterkopf bis sie in einem in der Form integrierten Klettverschluss endet, welcher zur besseren Erreichbarkeit auf der Seite platziert ist. Der Klettverschluss besteht aus einem Pilzkopfsystem, der zum einen eine stufenlose Einstellung ermöglicht und zum anderen zur Reinigung desinfiziert werden kann.
Um in der Seitenlage keine Druckstellen zu fördern, verjüngt sich der Klettverschluss in der Materialstärke seitlich.
Aus dem gleichen Grund wurde die meiste Elektronik im Stirnteil und dem Kopfbügel verstaut. Dabei wurde der Wechselakku fern von dem Gesicht gehalten und gut erreichbar oben am Kopf platziert.
Das Headset besteht aus einer Innen- und Außenschale, beide sollen aus dem Material TPU bestehen, welches den Vorteil bietet, in verschiedenen Elastizitäten spritzgegossen werden zu können. Eine weitere Eigenschaft ist die chemische Resistenz, was für ein Desinfizieren der Oberfläche und ein Anliegen an der Haut wichtig ist.
Die Innenschale ist für den nötigen Komfort und die Anpassung an Kopfformen sehr elastisch (ca. Shore A60). Es wurde sich bewusst gegen ein Textil entschieden, da eine Reinigung einen Mehraufwand bedeuten und somit der Einsatz im Krankenhaus unrealistischer werden würde.
Die Außenschale bringt durch ein mittelhartes TPU (ca. Shore A70-80) die nötige Stabilität mit sich, damit sowohl Elektroden als auch das Bone Conduction Modul immer Kontakt mit der Haut haben und so eine einwandfreie Funktion gewährleistet wird. Trotzdem soll es elastisch genug sein, um die Verformung an den Kopf zuzulassen.
Drei Elektroden, ein Bone Conduction Modul, ein Lichtsensor und Akkuanschluss werden zwischen Innen- und Außenschale verbaut und mit einer flexiblen Leiterplatte, auf der sich sämtliche Prozessoren befinden, verbunden.
Der Wechselakku ist durch Griffmulden an den Seiten zu entnehmen und sitzt stabil in der Schale durch Formschluss und leichten Magneten.
In der formalen Gestaltung haben wir uns für geometrische, aber weiche Formen entschieden, sodass das Produkt nicht zu technisch und unnahbar wirkt. Mit der matten Oberfläche in Hellgrau soll es sich von anderen Medizinprodukten entfernen und eine weiche Wirkung erzeugen.
Software
Der Aufbau der nicht visuell sichtbaren Software ähnelt einem Ordnersystem am Computer. Hier können die Patient:innen mithilfe eines auditiven Feedbacks über ein in dem Headset integrierten Bone Conduction Kopfhörer durch verschiedene Über- und Unterordner navigieren. Werden die Augen nach oben oder nach unten bewegt, springt die Software auf die darüber oder darunter liegende Option. Jede neue Option, über die navigiert wird, bekommt ausschließlich der oder die Patient:in auditiv vorgelesen. Über verschiedene Augenbewegungen und dem Blinzeln können so Sätze erstellt, gespeichert und für alle hörbar über einen Lautsprecher in der dazugehörigen Station ausgegeben werden. Das natürliche Blinzeln kann dabei von der Software von dem willentlichen unterschieden werden.
Sprachmodi
Der Sprachmodus lässt sich in den Einstellungen ändern. Der User kann dabei zwischen „Ja/Nein“, „ganze Sätze“ „Wortbaukasten“ und „Buchstabentafel“ wählen. Diese Modi bieten verschiedene Kommunikationsmöglichkeiten, die ihm/ihr je nach Situation einen schnellen oder auch individuellen Satzbau ermöglichen und in der Eingabekomplexität variieren.
-Ja/Nein Kommunikation
Durch eine Augenbewegung nach oben wird auf dem Lautsprecher der Basisstation das Wort „Ja“ ausgegeben und durch nach unten schauen wird das Wort „Nein“ ausgegeben. Das ermöglicht dem Kommunikationspartner, dass er dem/der Patient:in Suggestivfragen stellen kann und der/die Patient:in eine klare Antwort geben kann, die auditiv bestätigt wird.
-Ganze Sätze
Der User kann zwischen verschiedenen vorgefertigten, im Krankenhausalltag häufig benutzten Sätzen auswählen, die in Themen-Kategorien eingeteilt werden. So kann er z.B. bei Schmerzen dies in möglichst wenigen Schritten einer außenstehenden Person mitteilen.
-Buchstabentafel
In diesem Sprachmodus ist es möglich, komplett individuelle Sätze aufzubauen und diese abzuspeichern oder laut abzuspielen. Durch eine Kategorisierung des Alphabets nach Häufigkeit der Verwendung in der deutschen Sprache in Über- und Unterordnern kann der User sich so mit maximal 6 Schritten zu jedem beliebigen Buchstaben navigieren und diesen über Blinzeln bestätigen. Hat er einen Satz vollendet, kann er diesen entweder über den Lautsprecher ausgeben, für später abspeichern oder in einen anderen Modi hinzufügen.
Station
An der Station werden nicht nur die Sätze, die der oder die Patient:in einloggt hat, laut ausgegeben. Dort kann der Sekundärnutzer zudem die Ausgabelautstärke einstellen.
Des Weiteren befinden sich dort Bedienelemente zum Ein- und Ausschalten und zum Verbinden des Headsets. Zusätzlich kann jederzeit ein Notfallalarm von den Betroffenen ausgelöst oder gestoppt werden, indem er/sie den SOS-Morsecode blinzelt. Der Alarmton wird dann über den Lautsprecher der Station ausgegeben und lässt sich dort über einen Knopf wieder deaktivieren. Zudem hat man die Möglichkeit einen Scan-Modus für Patient:innen einzuschalten, die ausschließlich blinzeln können. Dieser bewirkt, dass die Auswahlmöglichkeiten der Software automatisch durchgeblättert werden und die Betroffenen nur über Blinzeln eine Auswahl treffen, sobald die gewünschte Option erreicht ist.
Gestalterisch wurden die Bedienelemente der Basisstation in verschiedene Funktionsbereiche eingeteilt und die Größe der Bedienelemente nach Häufigkeit der Nutzung entsprechend angepasst.
Jonas Mahler, Amelie Straubmueller
BetreuungAndreas Hess, Prof. Gerhard Reichert
VeröffentlichungWintersemester 2021 / 22
TagsMedizin Produktgestaltung Kommunikation Hardware Innovation Krankheit Ergonomie Eyetracking User Centered
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